Meine Mutter wollte mich abtreiben - trotzdem habe ich sie bis zum Tod gepflegt - FOCUS online

2022-09-16 21:28:27 By : Mr. Russell zheng

Ihre Kindheit war lieblos und brutal. Die Mutter pflegen? Das könnte ich nicht, sagt sie. Doch es kommt anders. Die Geschichte einer Versöhnung im allerletzten Moment.

Eine meiner frühen Kindheitserinnerungen ist die Mutter im Bad. Es gab damals noch keine Pille und meine Eltern müssen ein recht reges Liebesleben gehabt haben. Häufig hörte ich ein Hantieren und Klappern, begleitet von einem Fluchen. Hinterher sah ich die Handpumpe und den Schlauch auf der Ablage liegen, aber erst im Laufe der Jahre bekamen die Geräusche und die dazugehörigen Utensilien einen Sinn: Meine Mutter benutzte eine Scheidenspülung.

Vier Mal hat meine Mutter abgetrieben zwischen meiner acht Jahre jüngeren Schwester und mir. „Hätte ich euch doch bloß auch wegmachen lassen“, sagte sie, wenn sie wütend war. Wie kann sie nur – so was denkt man nicht als Kind. Sondern: Ich bin falsch. Ein diffuses Gefühl, das mehr und mehr auch aus Erfahrungen gespeist wurde, die ich außerhalb machte.

In der Nachbarschaft gab es beispielsweise diesen Hof: Die Bäuerin hatte sieben Kinder und wann immer eines weinte kam sie schnell aus dem Stall, klopfte sich die dreckigen Arme ab und fing an zu pusten und tröstende Lieder zu singen. Obwohl sie bis zum Hals in Arbeit steckte.

Meine Mutter, zwei Kinder, Volksschullehrerin, pustete nie. „Das hat Folgen“, meinte sie, wenn ich Fehler machte bei den Hausaufgaben oder ein Gedicht beim Aufsagen holperte. Austreiben müsse man mir meine Dummheit. „Sonst wird nie was aus dir.“ Sie hätte mich nie geschlagen, hat sie später mal gemeint. Aber wenn Vater nach Hause kam, erstattete sie jedes Mal Bericht. Er holte dann den Kleiderbügel. Und sie ließ es geschehen. Ihr Wegducken, die Passiv-Rolle, ein früh gelerntes Muster?

Zwölf war ich, als ich zum ersten Mal blutete. Und Mutter dachte wohl, das sei Aufklärung: davon zu erzählen, wie sie vergewaltigt worden war, „im Krieg“. Überhaupt, diese Sache namens Geschlechtsverkehr. Nur Ärger hätte man „mit den Folgen“. „Man sieht es ja an dir.“

Dem Himmel sei Dank, dass ich es anders sehen konnte. Zu meiner Tochter, aus dieser siebenjährigen Ehe entstanden, habe ich ein gutes Verhältnis. Ein von Grund auf anderer Typ Mensch bin ich. Dennoch: „Sie ist meine Mutter“, sagte ich, wenn wir zweimal jährlich hinfuhren, an Weihnachten, zu Ostern. Sagte vielleicht auch das Kind in mir, das sich heimlich sehnte, so sehe ich’s jetzt.

Zusammen spazieren gegangen sind wir, Karten gespielt haben wir, wenn nicht gerade der Fernseher lief. Und wenn sich Floskeln wiederholten, meiner Tochter gegenüber - „was soll nur aus dir werden?“, wegen einer Drei in Mathe - dann zwinkerte ich Anna zu. Statt mich offen zu wehren. Wie ein Bollwerk erschien mir meine Mutter, zwecklos, dagegen anzukämpfen. Ihre Stimme, die Bewegungen - einen inneren Widerstand verspürte ich permanent. Unerträglich die zehntel Sekunde, wenn wir uns zur Begrüßung und zum Abschied in den Arm nahmen. Weiterdenken? Nicht möglich. Grotesk, an etwas so Körperliches zu denken wie Pflege, wenn doch schon das Körperlichste, was es gibt, eine Schwangerschaft, ein einziges Dagegen war.

Mit ihrem 70. Geburtstag änderte sich etwas. Die ganze Zeit saß sie völlig untypisch auf der Couch und lief nicht wie sonst zwischen Küche und Gästen hin und her. Aber keinem ist es aufgefallen. Oder wollte es meine Schwester, die beruflich und familiär sehr eingespannt war, nicht sehen? „Du hast Zeit“, sagte sie immer. Wegen meiner rheumatischen Beschwerden bin ich Frührentnerin. Als ginge es darum.

„Mama liegt im Krankenhaus, gebrochener Oberschenkelhals“, sagte Vater eines Tages am Telefon. Ich fuhr hin. Konnte nicht glauben, Mutter so zu sehen. So hilflos, so zerbrechlich. Es ist ja nur vorübergehend, sagt der Kopf. Aber das Herz hofft vielleicht insgeheim auf eine Chance.

Völlig verwirrt und orientierungslos wirkte sie nach der OP. Von einem „Durchgangssyndrom“ sprachen die Ärzte, das gebe es oft, lege sich wieder. Tat es aber nicht. So kann sie nicht in die Reha, hieß es. Aber hatte es nicht geheißen, das schrittweise Gehen lernen sei mit einer neuen Hüfte essentiell? Augen zu und durch, dachte ich. Damit sie schnellstmöglich wieder selbständig wird. Ich hielt sie, sie wehrte sich. Ich hielt sie fester, kämpfte gegen mein Inneres, das sich ebenfalls wehrte. Und dann kam der Tag der Entlassung und ich dachte: Nur die paar Tage bis sie zurechtkommt noch.

Zu Hause wusste sie plötzlich nicht mehr, wie man sich den Hinten abputzt oder einen Herd andreht und mein Vater ist wie viele Männer dieser Generation: zwei linke Hände im Haushalt. Ich legte mich zu ihr ins Doppelbett, weil sie nachts oft unruhig war und es fatal für die Hüfte gewesen wäre, wenn sie alleine aufgestanden wäre. Ihr Schnarchen und das Nesteln an der Decke machten mich wahnsinnig. Ihre Nähe, das Umfeld, die vielen Erinnerungen… das alles machte mich wahnsinnig.

Von „beginnender Demenz“ hatten die Ärzte gesprochen. Jede Demenz hat lichte Momente. „Was würden wir bloß ohne die Birgit tun“, sagte sie, wenn Gäste kamen und ich Kuchen auf dem Tisch gestellt hatte. Und vielleicht war das ja die düstere Seite, wenn sie mich als „dreist“ beschimpfte, weil ich das Bad hatte barrierefrei umbauen lassen - „völlig überflüssig, viel zu teuer.“ Nie konnte ich es recht machen.

Und doch wurden aus Tagen Wochen, Monate und schließlich ein Vierteljahr. Eines Morgens dann im Bad: Sie hatte sich wieder eingekotet, wollte sich aber nicht von mir waschen lassen und in ihrem Nachthemd bleiben. „Fass mich nicht an“, sagte sie, als ich ihr helfen wollte. Ich sehe uns noch am Waschbecken stehen. Ihre Faust in meinem Bauch. Meine Hände um ihrem Leib. Sie ist krank, schrie der Vater. Ich kann ja tun was ich will, sie wird mich nie akzeptieren, schrie das Kind in mir. Das war der Moment, in dem ich alles hingeschmissen hab. Meine Schwester anrief, meine Sachen packte und ging.

In einer psychosomatischen Klinik wurde ich wieder aufgebaut. Wie im freien Fall fühlt man sich. Ohne Mutter? Natürlich war sie Thema bei den Gesprächen. Aber eher indirekt. Mein Selbstwert, darum ging es. Andere kann man nicht ändern, sagte die Therapeutin. Aber wer gut zu sich sei, setze sich anders in Beziehung. Und dadurch löse sich was. Wirklich? Meine Schwester hatte zwischenzeitlich dafür gesorgt, dass Mutter jetzt im Heim untergebracht war und eines Tages dachte ich: Ich bin soweit. Jetzt finden wir uns neu.

Und so war es dann auch, aber anders als gedacht. Ich machte gerade eine Rundreise durch Kanada, als der Anruf meiner Schwester kam: „Mama hat Krebs. Beide Brüste müssen ab.“ Entsetzlich war es, sie so zu sehen. Die wulstigen Narben. Das Häuflein Elend, das sie war, auch, weil sie kaum noch sprechen konnte - wohl eine Folge der fortschreitenden Demenz.

Arme Sau - ich erinnere noch genau, wie mir das durch den Kopf schoss. Aber Mitleid, das trifft es nicht, es wäre zu klein, zu wenig. Innerlich weit geworden fühlte ich mich. Plötzlich sah ich nicht mehr nur den Menschen, der da saß. Sondern auch das Leben, das ihn gemacht hatte. Der Krieg, die Vergewaltigung, das hektische Hantieren nach dem Geschlechtsverkehr. Ich glaube, das war der Moment, in dem ich das Kind nach Hause geschickt hab. Und mit ihm die Selbstwert-Strategien. Die vielleicht eine Stütze sein können. Aber wirklich groß wird man so nicht.

Du hast Größe bewiesen - das habe ich später mehrmals gehört. Es stimmt. Verreckt wäre Mutter ohne mich, Nahrung durch die Sonde, die Windeln immer voll. Die Station war ständig unterbesetzt. Aber mein Tun war nicht selbstlos. Und Verzeihen heißt auch nicht: War ja alles nicht so schlimm. Doch. War es. Aber mit Weitblick lässt sich manches besser verstehen. Und dadurch nimmt man an. Und vor allem: sich selbst.

Fünf Monate lang war ich von morgens acht bis abends acht bei ihr. Ich fütterte sie, wechselte Windeln, gab ihr Schmerzmittel. Zugegeben: Die Milde, die eine Krankheit wie die Demenz im fortgeschrittenen Stadium mit sich bringt, die weicher gewordenen Züge in ihrem Gesicht, das verzweifelte Weinen, nachdem sie wieder mal ausfällig gewesen war, das alles hat es leicht gemacht. Die Liebe zuzulassen, die immer da sein wollte. Was wiederum auch ihr vermutlich im letzten Moment den Wandel ermöglichte.

Es war spät, ich wollte gerade gehen, da richtete sie sich noch mal auf. Sie, die inzwischen kaum noch ein Wort rausbekam. „Ich danke dir“. Drei Wochen später ist sie gestorben. Die Wärme ist still aus ihrem Körper gewichen. Es war ein friedliches Ende könnte man sagen. Oder auch: Der Beginn von wirklichem Frieden in mir, wie meine Tochter findet.

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Montag, 23.05.2022 | 17:06 | Paul Anders  | 1 Antwort

Frau Hussendorfer, was bezwecken Sie mit dem Artikel? Die Frau wurde ja nicht abgetrieben. Wäre es ihr lieber gewesen wenn doch? Und was ist nun so schlimm daran dass Sie sie gepflegt hat? Wie kann die Tochter darüber urteilen was, wie, wo u.s.w. Ihre Mutter in welcher Lage war.? Bis in die 2000 J. War eine leidige Frau mit Kind in vielen Teilen der BRD noch schlecht angesehen. Nicht wie heute, wo 16,17 J. Mädchen Kinder wollen aber von NICHTS AHNUNG haben. Noch nicht einmal vom Sex.

Mir sagt der Artikel vorallendingen das man auf seine Worte in jeder Situation achten sollte gerade bei Kindern man kann ihnen das Leben versauen. Aber auch gegenseitiges Verständnis wird am Ende klar.

Sonntag, 08.05.2022 | 18:28 | Herbert Kraus  | 1 Antwort

Sehr geehrte Frau Hussendorfer, Ihr Beitrag ist mir sehr hilfreich da ich mich in einer ähnlichen Situation mit meinem Vater befinde.

genauso erging es mir in meinem Leben. Aber meine Geschichte mit meiner Mutter würde hier den Rahmen sprengen.

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